Fünfte Lieferung Abgeschlossen: Kharkiv



Unsere fünfte Lieferung war unsere größte und komplexeste, mit verschiedenen Empfängern, Partnern und Fahrzeugen. Uns erwarteten neue Herausforderungen und vor allem die bisher längste Route – nach Kharkiv.

Unsere Fahrt hat diesmal einschließlich Rückflug ab Kraków 8 Tage gedauert. Eine lange und intensive Erfahrung, die wir mit Ihnen, unseren Spendern und Unterstützern in diesem Bericht teilen möchten.

Vorbereitung

Für diese Lieferung waren drei sehr unterschiedliche Kunden vorgesehen. Unser erster beabsichtigter Empfänger war Andriy, von einer Territorialverteidigungseinheit, die in der Nähe von Bakhmut kämpfte. Er wurde uns von Freunden in Michaels Deutschkurs in Walldorf vorgeschlagen. Seine Einheit verlor bei einem Artillerieangriff auf das Hauptquartier seiner Kompanie viel Ausrüstung und brauchte dringend einen neuen Pickup.

Unsere zweite Anfrage kam von einem SAP-Kollegen in der Ukraine, der nach einem geeigneten SUV für eine Spezialeinheit gesucht hatte, in der Ukraine jedoch nichts Geeignetes finden konnte. Wie in anderen Beiträgen berichtet, ist der Markt für Allrad-Fahrzeuge in der Ukraine – und sogar in Polen – wie leergefegt. Immer mehr Ukrainer suchen auch im weiteren europäischen Umfeld nach guten Pickups und SUVs.

Die dritte Anfrage errreichte uns über unsere Freunde, mit denen wir über die letzten Monate zusammengearbeitet haben. Zwei Kollegen der Mutter des Journalisten Serhiy, ein Lehrer-Ehepaar, hatten sich freiwillig zur Armee gemeldet , nachdem ihre Schule letztes Jahr geschlossen wurde. Sie kämpfen in einer Einheit der Territorialverteidigung direkt an der Front, ebenfalls in Bakhmut. Auch sie benötigen Fahrzeuge, die wendiger und zuverlässiger sind als die sowjetischen Modelle, die sie bisher benutzten, z. B. ein ZIL, und die inzwischen auch zerstört sind.

Bereits im Juni fanden wir einen Mitsubishi L200 direkt in Speyer. Dazu kam noch ein weiterer Nissan Navara (unser vierter) und, weil ein geschlossener SUV mit mehr Sitzplätzen für die Spezialeinheit erforderlich war, ein Mitsubishi Pajero.

Mit den unterschiedlichen Empfängern entsteht ein erhöhter administrativer Aufwand. Pickup4Ukraine spendet Fahrzeuge nur auf offiziellem Weg an die Streitkräfte der Ukraine. Dahinter steckt ein komplexer Prozess, ein Relikt der Sowjetunion, das die Ukraine weiter belastet. Eine Armeeeinheit muss einen offiziellen Antrag an eine anerkannte karitative Organisation einreichen, damit ein Auto als humanitäre Hilfe für die Armee anerkannt wird. Aus dem Grund arbeiten wir in der Ukraine mit der „Dead Lawyers Society“ zusammen, die diesen Status besitzt. Bei der Übergabe wird ein Protokoll unterschrieben, und das Fahrzeug geht offiziell in den Bestand des Verteidigungsministeriums über. Nachteil ist, dass der unterschreibende Offizier der Einheit dann auch persönlich für dieses Eigentum verantwortlich ist. In der Praxis bedeutet das, dass der Offizier bei Beschädigung oder Verlust voluminöse Berichte schreiben muss, wie es zum Schaden kam und auch persönlich haftbar gemacht werden kann.  Aus diesem Grund zögern viele Offiziere, eine solche Spende anzunehmen, auch wenn die Fahrzeuge dringend gebraucht werden. 

Im Vorfeld unserer Fahrt gab es daher schon zahlreiche Diskussionen, wer bei den Empfängern bereit ist zu unterschreiben, oder ob es auch anders geht. Aus diesem Grund konnten wir Andriys Anfrage am Ende nicht erfüllen und mussten eine andere Einheit suchen. Für uns geht es nicht anders, sonst wird an der Grenze Zoll fällig. Wir geben das Geld lieber für Fahrzeuge aus.

Wie bei den zwei vorigen Fahrten hatten Kati Siebold und ihr Mann dankenswerterweise im Vorfeld auch wieder Krankenhausmaterialien gesammelt und ins Begegnungshaus in Walldorf gebracht. Dort sortierten wir die große Menge in Kartons und Säcke, um sie für die Fahrt dann auf die Autos zu verteilen. Das gesamte Material wird typischerweise von der „Dead Lawyers Society“ in der Ukraine entgegengenommen, nach Bedarf sortiert und neu zusammengestellt, und dann an Frontkrankenhäuser geschickt.

Die Fahrt

Auf allen bisherigen Fahrten blieben wir von technischen Schwierigkeiten verschont, aber dieses Mal waren wir mit einer schweren Panne herausgefordert. Etwa eine Stunde nach dem Start stieg aus dem Motorraum unseres Mitsubishi L200 Dampf auf—der Motor war überhitzt. Bei Neckarsulm mussten wir die Autobahn verlassen. Wir warteten eineinhalb Stunden, bis eine Werkstatt öffnete, und dann noch, bis eine Untersuchung stattfinden konnte. Der KfZ-Mechaniker (ausgerechnet ein Ukrainer!) kümmerte sich sofort, nachdem er verstanden hatte, wohin dieses Auto geliefert werden sollte. Nach einer ersten Prüfung musste er uns jedoch berichten, dass es noch Stunden dauern würde, bis die Ursache letztlich geklärt wäre. Wir mussten schnell entscheiden, ob wir warten und den Zeitplan gefährden, oder ob wir den Pickup zurücklassen. Schweren Herzens entschieden wir, ohne den L200 weiterzufahren. 

Mit unserem Kollegen Michael Roth, der am Wochenende vorher den Nissan Navara abgeholt hatte, trafen wir uns an einer Raststätte nähe Bayreuth, und wieder mussten wir Entscheidungen fällen. Da Michael im Büro einen sehr vollen Terminkalender hatte und kein dritter Fahrer erforderlich war, schlug er vor, nicht selbst weiterzufahren und stattdessen unseren angeschlagenen L200 in Neckarsulm abzuholen und mit ihm nach Walldorf zu zurückzufahren.  Die Werkstatt hatte zwischenzeitlich die Ursache der Panne festgestellt: eine defekte Zylinderkopfdichtung, also ein schwerer Motorschaden. So verabschiedeten wir uns: Michael Roth fuhr mit der Bahn zurück, Annette und Michael fuhren mit Navara und Pajero weiter.

Wir hatten allerdings die Entschlossenheit von Michael Roth nicht berücksichtigt. Er fuhr wie verabredet zur Werkstatt, hörte sich die Einschätzung des Mechanikers an, man könne trotz des Motorschadens und damit nicht voll funktionierender Motorkühlung mit stattdessen voll aufgedrehter Heizung durchaus 80 km/h fahren. Er beschloss statt nach Walldorf nach Lviv zu fahren. Als Michael uns mit den Worten „Walldorf wäre doch die falsche Himmelsrichtung“ über diesen kühnen Plan informierte, waren wir erstaunt und gleichzeitig besorgt. Wer fährt 1300 km mit Motorschaden? Das Risiko wollte Michael eingehen, weil eine Reparatur in der Ukraine wesentlich billiger ist als in Deutschland, und dann ist das Fahrzeug immerhin schon „vor Ort“ in der Ukraine und kann unabhängig von unseren Terminkalendern instandgesetzt und ggf. auch an die Empfänger geliefert werden. Trotz der Risiken mussten wir der Logik zustimmen. Michael fuhr die ganze Nacht mit einer kurzen Pause und viel Red Bull, um uns am nächsten Morgen nahe der polnisch-ukrainischen Grenze zu treffen. Michael und der Mitsubishi überlebten die Fahrt.  

Die weitere Strecke verlief ohne Drama. Wir kamen zu dritt mit allen drei Autos in nur 2,5 Stunden über die Grenze und waren am frühen Nachmittag des zweiten Tages in Lviv. Dort haben wir uns von Michael R. (wirklich) verabschiedet. Er nahm gleich einen Überlandbus zurück nach Polen. Annette und Michael konnten anschließend den Mitsubishi Pajero übergeben und den defekten L200 auf einem bewachten Parkplatz abstellen. Inzwischen ist er dort in der Werkstatt. Wir hatten dann am Abend noch Zeit, uns auch mit unseren Freunden Oleksandr Sydielnikov und Evelina Bublyk zu treffen.

Am dritten Tag brachen wir – nun nur noch mit einem Auto, dem Nissan Navara –  nach Kyiv auf und kamen ohne Zwischenfälle am Nachmittag an. In Lviv hatte uns noch ein Wolkenbruch ereilt, aber Kyiv war trocken und heiß. Die Stadt war – wie bei unserem früheren Besuch – voller Leben. Wir fanden uns im „Hub“ der gemeinnützlichen Organisationen, dem Sitz der „Dead Lawyers Society“ ein,  und trafen dort unsere Freundinnen Maria Zivert und Nadiya Denysiuk, um ihnen den medizinischen Bedarf zu übergeben. Anschließend konnten wir uns mit Anna Mikulytska, der Generaldirektorin von SAP Ukraine treffen. Anna setzt sich für Pickup4Ukraine stark ein, und wir haben uns erstmalig zu dritt getroffen—und das auch noch in der ukrainischen Hauptstadt. Anna führte uns herum und zeigte uns ein paar weniger bekannte Ecken in Kyiv. Mit ihr genossen wir ein köstliches Abendessen in einem krimtatarischen Restaurant.

Der Auftrag für den vierten Tag unserer Fahrt bestand darin, den Nissan umlackieren zu lassen. Unsere Kollegin Elena Busha von SAP hatte im Vorfeld unserer Reise einen Lackierer ausfindig gemacht, der zu Materialkosten den Pickup grün anstrich. Der Farbton war allerdings nicht das Olivgrün, das wir erwartet hatten sondern „froschgrün“, was dem Pickup den ukrainischen Spitznamen „Zhaba“ – „Frosch“ einbrachte.

Die Übergabe

Die Etappe nach Kharkiv begannen wir am fünften Tag um 5.00 morgens in Begleitung unseres Freundes Serhiy Maistruk, den wir im Mai kennengelernt hatten, und der uns damals zu der Ruine seines eigenen Hauses führte und uns die Zerstörung der Orte Bucha und Borodyanka zeigte. Serhiy ist selbst akkreditiert und begleitet darüber hinaus internationale Journalisten an die vorderste Front. Dementsprechend ist er für uns als Quelle der Erfahrung und des praktischen Wissens von unschätzbarem Wert. Er übernahm das Steuer in der Stadt Kharkiv und führte uns zielsicher zu unseren Treffpunkten. Die erste Station war das Krankenhaus Nr. 18 in Kharkiv, wo wir Dr. Artem Skidanov, den Chef der Traumaabteilung, trafen. Wir hatten ein paar Materialkartons für das Krankenhaus aus Kyiv wieder mitgenommen, um sie ihm und seinem Team persönlich zu übergeben. Dr. Skidanov bot uns Tee an und erzählte von seinem Leben im Krieg: wie Frau und Tocher ins Ausland geflohen sind; wie er zu Kriegsbeginn drei Monate auf der Pritsche in seinem Büro übernachtete und nachts um sich herum die Stadt brennen sah; und von dem nicht abreißenden Strom von Patienten, die jetzt von der Front ins Krankenhaus geliefert werden. Vor allem erzählte er von der Müdigkeit, die ihn an dem Tag unseres Besuchs veranlasste, die geplanten Operationen abzusagen. Er fühlte sich nicht mehr im Stande, sie sicher durchzuführen. Vor dem Krankenhaus konnte man Soldaten sehen, Patienten und Angehörige, die in Gruppen rauchten und sich unterhielten.

Unseren Pickup übergaben wir anschließend in dem Stadtteil Saltivka, der besonders unter Artilleriebeschluss gelitten hatte, bis die ukrainischen Streitkräfte vor einem Jahr das Gebiet befreiten. Die Empfänger kamen von der Front bei Bakhmut nach Kharkiv, um den Pickup in Empfang zu nehmen. Sie freuten sich enorm über den im Vergleich zum ZIL geradezu luxuriösen Pickup und waren sichtlich gerührt. In diesen Momenten wird uns die Bedeutung der Unterstützung durch uns alle greifbar. Die Soldaten machten sofort nach dem Treffen wieder auf den Weg zurück zur Front.

Wir konnten nach der Übergabe und vor unserer Abreise am nächsten Morgen einige Eindrücke sammeln. In Kharkiv merkte man eine andere Nähe zum Krieg, als das für uns in Kyiv oder selbst in Dnipro der Fall war. Kharkiv ist zwar 100km von der derzeitigen Frontlinie entfernt, aber eben nur 30km von der Grenze zu Russland. Eine andere Nervosität ist zu spüren, und die Folgen der Kampfhandlungen sind überall in der Stadt zu sehen. Ein Fliegeralarm folgt auf den anderen, so dass die Stadt—die zweitgrößte der Ukraine mit 1,4 Millionen Einwohnern vor dem Krieg—nicht zur Ruhe kommt. 

Einen kleinen Eindruck bekamen wir davon, als nachts zwei Fliegeralarme uns aus unseren Zimmern in den Gang des Hotels trieben, um zwei dicke Wände zwischen uns und die Außenwelt zu bringen. Serhiy hatte uns einen Telegram-Kanal empfohlen, der detaillierte Informationen zu den Luftangriffen liefert. Diese Informationen helfen zu ermitteln, wie konkret die Gefahr ist. So verbrachten wir einen Teil der Nacht auf unseren Luftmatratzen in einem stickigen Flur. Was für uns eine außerordentliche Belastung scheint, ist für die Einwohner Kharkivs Alltag.

Rückkehr

Unsere Zugreise begann—wie bisher immer in der Ukraine—pünktlich, nämlich am nächsten Morgen um 7.00. Den Nachmittag verbrachten wir in Kyiv und nutzten die Zeit, um die Sophienkathedrale zu besuchen. Der mit Bäumen bestandene ruhige Kirchhof und das kühle Kircheninnere waren fast unwirklich friedlich und entrückt. Wir planten,  den Nachtzug zurück nach Polen zu nehmen. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass uns auch in Kyiv noch ein Luftalarm treffen würde. Der Warnung des Telegram Kanals folgend brachten wir uns – wie viele andere Menschen sich auch – vorübergehend unter der Erde in Sicherheit, in einer Metrostation. Der Zug brachte uns schließlich sicher nach Przemyśl in Polen und wir fuhren anschließend nach Kraków weiter. Dort hatten wir nachmittags Zeit für einen Besuch im Museum der Besatzung Krakaus im Gebäude der Emaille-Fabrik von Oskar Schindler. Die dort veranschaulichten Folgen von Aggression, Diktatur und der Verachtung der Menschenwürde sind für uns eine Mahnung und ein Ansporn, die Ukraine weiter zu unterstützen.

Die nächste Fahrt, voraussichtlich mit zwei Fahrzeugen, ist für Oktober geplant, und wir sammeln wieder Spenden über unsere Webseite www.pickup4ukraine.org

Vielen Dank für Ihre fortgesetzte Unterstützung!

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