Vierte Lieferung Abgeschlossen



Hintergrund

Niemand hätte im Januar erraten können, wie breit das Netz werden würde, das wir gemeinsam mit Freunden von der Ukraine über Polen, Deutschland, Großbritannien bis nach California geknüpft haben. Unsere vierte und bisher komplexeste Reise schöpfte alle Kontakte aus und erweiterte unser Netz weiter. 

Hilfsgüter

Krankenhausbedarf

Wie bei der letzten Fahrt haben wir über die „Dead Lawyers Society“ in der Ukraine (wir berichteten im Mai) wieder Krankenhäuser insbesondere mit chirurgischem Material versorgen können. Kati und Rainer Siebold haben dazu eine große Menge weiterer Materialspenden sammeln können. Außerdem sprach Kati Herrn Sommer von der Stadtapotheke in Walldorf an, der großzügig noch eine Menge Kanülen, Spritzen und Nadeln spendete, die Maria von der „Dead Lawyers Society“ als „großen Schatz“ bezeichnete. Dieses Mal kamen 16 Kisten (an der Stelle auch vielen Dank an IKEA Walldorf für die Spende der Samla Boxen) zusammen, die an zivile Krankenhäuser nahe den Frontlinien (u.a. in Kramatorstk, Toretsk, Berdyansk) verteilt werden. Uns erreichte allerdings kurz vor der Abfahrt die traurige Nachricht, dass das Krankenhaus in Toretsk durch russischen Artilleriebeschuss völlig zerstört wurde. 

Die Soldaten einer Brigade an der Donbassfront, für die wir im Mai bereits einen Pickup geliefert hatten, suchten 15 Panzerkombis, die wir über einen Bundeswehr-Onlinehandel beschaffen konnten. Außerdem bat uns ein Teilnehmer von Michaels Deutschkurs in Walldorf, ein Paket mit Ausrüstung für seinen Bruder in der Armee mitzunehmen.

Fahrzeuge

Zusätzlich zu dem Wunsch, einen Pickup zu erhalten, erreichte uns im März die Anfrage unserer bisher belieferten Einheit der ukrainischen Streitkräfte, ob wir zwei E-Bikes beschaffen könnten. Was für E-Bikes und warum? Hier ist nicht die Rede von einem handelsüblichen Trekking-Rad mit Akku, sondern von elektrischen Motorrädern mit einer Traglast von 150kg, einer Spitzengeschwindigkeit von 70 km/h, dabei fast geräuschlos und auf Infrarot-Sichtgeräten unauffällig—und sie werden in der Ukraine hergestellt! 

Diese teure Anschaffung wurde durch den Einsatz von Kolleginnen der SAP Ukraine ermöglicht, Anna und Lena, die Spender in der Ukraine und der Region fanden und den Kauf für uns koordinierten—eine unglaubliche Leistung! 

Um die E-Bikes sowie die große Menge an Krankenhausbedarf zu transportieren, reichte kein Pickup, sondern es musste diesmal ein Transporter sein. Auch diesen braucht die Armee-Einheit, die wir beliefern, allerdings untypischerweise nur mit Zweiradantrieb und Automatik—also auf Straßen beschränkt – und, wie wir erstmals hörten, für junge FahrerInnen geeignet, die nur Automatik kennen.

Ein Pickup durfte nicht fehlen, und wieder beschafften wir einen Nissan Navara, Baujahr 2006, mit Dieselmotor, Allradantrieb, und manueller Gangschaltung, geeignet für Fronteinsatz.

FahrerInnen

Bisher haben wir bei jeder Fahrt nur jeweils ein Fahrzeug in die Ukraine gebracht, was zu zweit sehr gut funktionierte. Mit zwei Fahrzeugen brauchten wir Verstärkung und konnten für die lange Strecke bis zur ukrainischen Grenze bzw. Lviv zwei SAP Kollegen, die kurzfristig einspringen konnten, gewinnen: Michael Roth und Dietmar Nowotny. Herzlichen Dank und willkommen im Team! Iryna Bublyk aus Kyiv, derzeit in Walldorf, ist ebenfalls mitgefahren und unterstützte hervorragend an der Grenze. Yuriy, ihr Mann, prüft die Fahrzeuge für uns vor dem Kauf. Hier haben wir sehr viel Hilfe bekommen. Danke!

Arrived in Ukraine

Die Fahrt

Am 14. Juni am frühen Nachmittag brachen wir mit dem Ziel auf, früh am 15. an der Grenze zu stehen. Die Fahrt verlief reibungslos, dankenswerterweise ohne Stau oder Panne. Die zwei Fahrzeuge erwiesen sich als angenehm und zuverlässig—zu unserer Erleichterung.

Ermutigt von der problemlosen Fahrt sahen wir den Grenzformalitäten gelassen entgegen—aber machten die Rechnung (wieder einmal) ohne den polnischen Grenzschutz.  Vor uns standen genau zwei Autos in der Warteschlange, aber wir alle mussten dennoch zwei Stunden vor dem Schlagbaum warten. Bis wir dann auf der ukrainischen Seite fertig waren, verstrichen insgesamt fünf Stunden. Dabei hatten wir es eilig. Wie bei den vergangenen Lieferungen haben wir tolle Unterstützung von Razom für die erforderlichen Dokumente bekommen–vielen Dank an dieser Stelle dafür und insbesondere an Ilya, der immer wieder für uns einspringt.

Wir wollten schnell nach Lviv weiter, um unsere Wagen umlackieren zu lassen, damit sie am übernächsten Tag für die Weiterfahrt bereit waren.

Nachdem der Pickup in der Lackiererei war, konnten wir mit dem Transporter den Krankenhausbedarf zu Nova Poshta bringen, einem ukrainischen Paketdienst, der in diesem Krieg Wunder der Logistik vollbringt und dadurch schon fast legendär ist.  Bei der Abfertigung ertönte ein Fliegeralarm, und wir konnten die Sendung gerade noch abgeben, bevor die Dienststelle schloss.

Den nächsten Tag verbrachten wir in Lviv, brachten den Bus zur Lackiererei, holten den nun militärgrünen Pickup wieder ab und konnten uns in der Stadt ein bisschen erholen, während wir auf den Bus warteten. Er war abends fertig, so dass wir am nächsten Morgen früh starten konnten.

Es sollte ein langer Reisetag werden. Als erstes stand an, unseren neuen Begleiter für die Reise nach Dnipro abzuholen: Dima, der Vater unseres Freundes Sasha, dem Juristen, den wir bei der letzten Reise kennengelernt hatten. Dima, Ortsvorsteher aus der Nähe der Stadt Orikhiv in der Oblast Zaporizhzhia, kannte nicht nur die Wege nach Dnipro sondern hatte viel Erfahrung mit Kontrollpunkten und Umgang mit der Armee. Orikhiv war letztes Jahr zeitweise besetzt, und Dima und seine Frau verließen ihre Heimat, nachdem sie von Kadyrov-Soldaten mit vorgehaltener Waffe zur Teilnahme am russischen Scheinreferendum aufgefordert wurden. Dima gab uns nicht nur Reisehinweise, sondern auch Einblicke in das Leben im Krieg. Dima wohnt jetzt in Pochaiv, der Stadt des bedeutenden Klosters, das noch immer dem Moskauer Patriarchat der Russisch-Orthodoxen Kirche angehört—eine Quelle großer Spannung. Da wir recht früh in Pochaiv ankamen, hatten wir noch die Möglichkeit, kurz die Klosteranlage zu besuchen. Neben den beeindruckenden Gebäuden hatten wir das Glück, in einer der Kirchen auf dem Gelände liturgische Gesänge einer Andacht hören zu können.

Nachdem Dima in den Pickup zugestiegen war, ging die Reise weiter nach Ternopil zur Firma Eleek, wo wir die E-Bikes abholten. Nach (sehr) kurzer Einweisung und Testfahrten brachen wir zu unserem Tagesziel auf: Kropyvnytskiy. Die Etappe war so geplant, dass wir kein Risiko liefen, nach der Sperrstunde anzukommen, aber auch so weit kommen, dass wir am nächsten Tag unseren Termin in Dnipro auf jeden Fall einhalten. Wir legten fast 800km auf guten Straßen und ohne Zwischenfälle zurück. Nach einem langen Tag auf der Straße konnten wir abends im Restaurant noch einiges von Dima erfahren.

Am Sonntag verließen wir früh morgens Kropyvnytskyi für die letzte Etappe, 250km nach Dnipro, und wieder konnten wir ohne Komplikationen auf guten Straßen das Ziel erreichen.

In Dnipro

Am vereinbarten Treffpunkt war unsere erste Begegnung mit den Soldaten einer Panzerkompanie. Im Mai konnten wir sie nicht persönlich kennenlernen, sondern übergaben den Pickup in Kyiv zum Weitertransport. Diesmal aber holten wir das Treffen nach. Die Soldaten kämpfen in einem erbeuteten russischen T-72 Panzer im Donbass, und die mitgebrachten Panzerkombis können von ihnen und von ihren Kameraden gut genutzt werden. Wir fragten, ob der Pickup gut funktioniert und erfuhren, dass sie zwar sehr zufrieden waren, aber das Fahrzeug schon wieder in der Werkstatt war: Aufgrund schneller Manöver, um Artilleriebeschuss auszuweichen, mussten neue Bremstrommeln her.

Anschließend kam Valentyn, Scharfschütze der einer Einheitaus der Nähe von Bakhmut. Valentyn erzählte, dass er in der Woche zuvor einen Schuss überlebt hatte, der nur das Magazin seines Gewehrs getroffen hatte. Mit großer Freude bestieg er eines der E-Bikes für eine schnelle und furchtlose Probefahrt. Die E-Bikes werden jetzt bereits an vorderster Front von Valentyn und seinem Scharfschützenteam eingesetzt.

Dima lud seinen Freund Kolya und dessen Sohn Sergey, die ebenfalls aus Orikhiv geflüchtet waren, zur Übergabe ein. Sie hörten sich die Erzählungen der Soldaten mit Begeisterung an. Obwohl sich diese Zivilisten und Soldaten vorher nicht kannten, konnte man auch die spontane und starke Solidarität zwischen den Menschen spüren.

Nach dem Abschied von Valentyn bot Kolya uns an, uns etwas von Dnipro zu zeigen. Diese Millionenstadt beeindruckt durch eine mehrere Kilometer lange Promenade am Ufer des Dnipro (Dnjepr). Das Ufer ist mit Bäumen bepflanzt, und regelmäßig sieht man Schutzräume, in die sich die Menschen zurückziehen können, wenn wieder ein Angriff droht. Eine wirklich schockierende Ansicht an dieser Promenade bot jedoch die Stelle des russischen Raketenangriffs auf ein Wohnhaus vom Januar 2023, bei dem 46 Menschen starben und über 200 Wohnungen zerstört wurden. Es klaffte eine regelrechte Lücke in dem Apartmentkomplex. Zum Teil standen noch Einbauküchenmöbel oben in halbierten Wohnungen. 

Da unsere Rückfahrt erst am späten Abend bevorstand, lud uns Kolya uns zu sich nach Hause ein, genauer gesagt zur Datscha von Verwandten auf dem östlichen Ufer des Dnipro, wo wir auch seine Frau Oksana kennenlernten. Dort wurden wir überaus liebevoll empfangen und mit selbst angebauten Speisen und Getränken verwöhnt. Ihr Zuhause in Orikhiv ist im Krieg zerstört worden, und die Familie ist unter Beschuss gekommen.  Sie sind nun Binnenflüchtlinge in der Ukraine und verfolgen genau, wie die Kämpfe um ihre Heimat verlaufen. Sie hoffen, nach Orikhiv zurückzukehren, um ihr Haus und ihre Stadt wieder aufzubauen.

Zurück

Mit dem Nachtzug fuhren wir 16 Stunden von Dnipro nach Polen zurück und teilten ein Abteil mit Natasha, Damir (9) und Vanka (2), die 2022 aus dem Land geflohen waren, aber seit Januar dieses Jahres wieder in ihre Heimat zurückgekehrt waren.

In Przemyśl trafen wir unverhofft andere Menschen, die die Ukraine unterstützen: Ärzte und Notfallhelfer aus Israel und den USA, sowie einen Konvoi von diesmal 12 Fahrzeugen aus Norwegen (60 seit Projektbeginn!) für zivile und militärische Zwecke. Wir haben uns lange mit den Norwegern unterhalten und möchten aufholen!

Fazit

Diese vierte Fahrt führte uns weiter als bisher, quer durch das Land. Überall sahen wir, dass die ukrainische Gesellschaft funktioniert: in der Versorgung, in der Infrastruktur aber vor allem im Geist. Ob Zivilisten oder Soldaten: die Menschen, denen wir begegneten, demonstrierten Entschlossenheit, für ihr Land einzustehen. Das ist kein hohles Pathos, wie man meinen könnte. Menschen wie Oksana, Kolya und Sergey, die fast alles im Krieg verloren haben, schaffen einen Neuanfang; JuristInnen im ganzen Land kommen als BürgerInnen zusammen, um Einrichtungen ihres Landes zu stützen. Menschen, die vor dem Februar 2022 keine Waffe angefasst hatten, stehen freiwillig und ohne Klage an den heute gefährlichsten Orten der Welt. Wir erlebten mitten im Schrecken konkrete Aktion, einander zu schützen und zu helfen. Unsere Entschlossenheit einen Beitrag für die Ukraine zu leisten, ist durch diese Fahrt und die vielen Begegnungen mit UkrainerInnen weiter gestärkt worden.

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